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Interview mit Stress-Coach Doris Kirch

Unerwartete Einsichten für Stress-Junkies …

Datum: 14.02.2012
„Mit der Adrenalin-Abhängigkeit ist es wie mit jeder anderen Sucht: Die Betroffenen sind meistens erst dann zur Einsicht und zu Veränderungen bereit, wenn sozusagen der Blitz einschlägt. Um Gefährdete mehr für das Thema Stress zu sensibilisieren, war ich mir nicht zu schade, in die Robe des Narren zu schlüpfen.“ Stress-Expertin Doris Kirch, Leiterin des Deutschen Fachzentrums für Stressbewältigung (DFME), hält mit ihrem Anti-Ratgeber „12 Goldene Regeln für Stress-Junkies“ allen Workaholics und Stress-Süchtigen einen äußerst unterhaltsamen, vor allem aber lehrreichen Spiegel vor.

In Ihren bisherigen Veröffentlichungen haben Sie versucht, Ruhe und Gelassenheit im Alltag zu verankern. Das neue Buch schlägt die entgegengesetzte Richtung ein und spürt die Adrenalin-Kicks im Alltag auf. Was hat Sie zu diesem ungewöhnlichen, aber zugegebenermaßen sehr unterhaltsamen Ansatz veranlasst?

Kirch: Kennen Sie die Geschichte von dem Mann, der im Wald mit einem stumpfen Sägeblatt Bäume fällt, während ein neues Blatt daneben liegt, und der auf die Bemerkung eines vorbeigehenden Spaziergängers entgegnet, dass er keine Zeit habe, das Sägeblatt zu wechseln? So ähnlich geht es den Angehörigen der Spezies „Stress-Junkie“: Sie zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie keine Zeit für Stressbewältigung haben. Meine Botschaften für ein entspannteres Leben verhallen deshalb leider häufig ungehört beziehungsweise bleiben ungelesen. Aus diesem Grunde – und weil Satire sich derzeit so großer Beliebtheit erfreut – habe ich mich entschlossen, aus meinem Gedankengut für ein entspannteres Leben eine Comedy in Lettern zu gestalten, die so unterhaltsam und inspirierend ist, dass sich selbst ein Stress-Junkie dafür Zeit nimmt. Die kurzweiligen überschaubaren Kapitelchen kann der Stress-Junkie mühelos im Laufschritt zwischen zwei Terminen „wegschwarten“.

Mit den „12 Goldenen Regeln für Stress-Junkies“ nehmen Sie all diejenigen aufs Korn, die eine besondere Hingabe an das Stress-Hormon Adrenalin auszeichnet. Welche Menschen haben Sie dabei besonders im Auge?

Kirch: Meine „Zielgruppe“ sind vorzugsweise diejenigen, denen ihre Selbstwahrnehmung durch Stress bereits so weit abhanden gekommen ist, dass sie vollmundig bekennen, ihren Stress zu „brauchen“, während die Mitwelt voller Bangen dem unvermeidlichen Tag entgegensieht, an dem der jeweils Betroffene wegen Burnouts zusammenbricht. Es sind die Leute, die nicht merken, dass sie ein totes Pferd reiten – wie es in der indianischen Tradition heißt.

Besteht nicht die Gefahr, dass man Sie missverstehen könnte? Was entgegnen Sie denen, die darin eine Verspottung der von Stress Betroffenen sehen?

Kirch: Wieso haben zu royalen Zeiten Hofnarren nie ihre Köpfe verloren? Sie waren die Einzigen, die dem König die Wahrheit sagen durften. Offenbar war es eher die Art der Präsentation als die Inhalte des Offenbarten, die dafür sorgten, dass der Narr seinen Kopf auf den Schultern behielt. Sehen Sie mich als einen Hofnarren, der die Leser kopfüber hängen lässt, um ihnen einen neuen Blickwinkel auf alte Wahrheiten zu verschaffen, und der ihnen parallel dazu einen Spiegel vorhält. Spätestens seit Grimms Schneewittchen wissen wir ja, dass ein Blick in den Spiegel zu völlig unerwarteten Einsichten führen kann. Spiegelung ist eine therapeutische Methode und Satire muss kein Spott sein. Für mich ist das Thema zu ernst und ich habe zu viel Mitgefühl mit den Betroffenen, um über ihre Situation zu spotten; aber um gerade die Betroffenen mehr für das Thema Stress zu sensibilisieren, war ich mir nicht zu schade, in die Robe des Narren zu schlüpfen.

Selbst Albert Einstein soll im leeren Schreibtisch einen leeren Geist gesehen haben. Welchen Tipp haben Sie für die Anhänger von „Multi-Tasking“ und „kreativem Chaos“?

Kirch: Der überquellende Schreibtisch ist schon mal ein vielversprechender Ansatz. Die ohnehin tiefsitzende Abneigung gegen alles Geordnete, Organizer, Checklisten, Tagespläne und Pünktlichkeit zu pflegen, kann sich ebenfalls als hilfreich erweisen. Als echter Stress-Junkie sollte man Prioritäten immer spontan – in „Echtzeit“ – setzen und sich angewöhnen, die zehntausend E-Mails im Posteingang mühelos im Blick zu behalten. Was über Tag nicht geschafft wurde, kann in der Nacht abgearbeitet werden, denn ein Stress-Junkie arbeitet ohnehin nur halbtags (also 12 Stunden).

Den Stoff für seine Sucht findet der Adrenalin-Junkie nicht nur im Beruf, sondern auch im Familienleben. Was sind die geeigneten Situationen, um sich so richtig unter Stress zu setzen?

Kirch: In der Tat: Im Rahmen des „Familienunternehmens“ lässt sich tatsächlich mächtig an der Stress-Schraube drehen. Am besten beginnt man den Tag damit, sich den Wecker so zu stellen, dass man es nur ganz knapp schafft, die Schul-Brote für die Youngster zu schmieren und sie zur Schule zu karren. Ein wahrer Stress-Junkie sollte alle Termine für Erledigungen, Behördengänge, Friseur und Autoinspektion im Kopf verwalten. So richtig ins Schwitzen kommt er dann, wenn er versucht, sie sinnvoll mit den Arzt-, Musik- und Sportterminen des Nachwuchses abzustimmen – natürlich im Kopf. Das ist Gehirnjogging und hält die kleinen grauen Zellen fit. Wer da noch richtig eins draufsetzen möchte, sollte alle nur möglichen Ehrenämter bekleiden, wie Elternsprecher im Kindergarten und in der Schule, Vorsitzender des Schulfördervereins und dergleichen.

Im „Handbuch Stressbewältigung“ haben Sie geschrieben, dass ein falscher Umgang mit Zeit ein echter Stressbeschleuniger ist. Was bedeutet das für den Stress-Junkie?

Kirch: Wer im Physikunterricht aufgepasst hat, weiß: Zeit ist relativ. Was Einstein einst umständlich berechnete, wissen Stress-Junkies aus Erfahrung. Aus ihrem Blickwinkel generieren sie durch Quantität mehr Qualität, das bedeutet: in möglichst kurzer Zeit möglichst viel zu bewegen und das Ganze dann durch Schnelligkeit zu verdichten. Daraus folgt: Je höher der Stress, desto befriedigender ihr Gefühl für Zeit-Qualität. Als sehr hilfreich hat sich außerdem erwiesen, die Zeitspanne zwischen Gedanken und Taten zu verkürzen. Das schafft Freiräume für weitere Umtriebigkeiten. Dass bei diesem Tempo mal was den berühmten Bach heruntergeht, stört den Stress-Junkie wenig, denn er weiß: Ein wenig Schwund ist immer.

Das Ignorieren körperlicher Beschwerden scheint der Königsweg zum sicheren Burnout zu sein. Was sind die häufigsten Symptome und wie werden diese „richtig“ gepflegt?

Kirch: Die Erkenntnis der psychoneuroimmunologischen Forschung, dass Körper und Geist sozusagen miteinander kommunizieren, ist für den Stress-Junkie eine eher lästige Erkenntnis, denn mit dem Bild einer funktionierenden tayloristischen Arbeitsmaschine kann er sich besser identifizieren. Mein Tipp als Stress-Coach: Wenn Sie Kopfschmerzen haben, sorgen Sie für Ruhe im Headquarter, indem Sie zwei Aspirin einwerfen. Wenn Sie Probleme mit dem Herzen haben, weil es unter emotionalem Mangel leidet, dann schauen Sie öfter einen „herzerweichenden“ Rosamunde-Pilcher-Film an, und für die bekannten schlaflosen Nächte nehmen Sie sich einfach Arbeit mit nach Hause. So vermeiden Sie Leerzeiten.

Bei aller Satire ist Ihr „Anti-Ratgeber“ doch auch ein sehr ernstes Buch, denn jeder Süchtige setzt seine Gesundheit aufs Spiel. Welchen Ausweg schlagen Sie aus der Adrenalin-Abhängigkeit vor?

Kirch: Mit der Adrenalin-Abhängigkeit ist es leider so wie mit jeder anderen Sucht: Die Betroffenen sind meistens erst dann zur Einsicht und zu Veränderungen bereit, wenn sozusagen der Blitz einschlägt. Manchmal reicht es schon, wenn ein Freund einen Burnout oder einen Herzinfarkt hat – manch einer muss aber erst selbst auf die Bretter geschickt werden, um zur Besinnung zu kommen. Da die Auswirkungen unserer immens beschleunigten Zeit erst langsam deutlich werden, gibt es im Moment selbst im medizinischen Bereich nur wenige ganzheitliche, empfehlenswerte Ansätze. Betroffene sollten sich an Spezialisten für dieses Thema wenden, wie zum Beispiel das Deutsche Fachzentrum für Stressbewältigung (DFME). Dort kennt man sich aus und kann Ratsuchenden weiterhelfen, ohne dass eine medizinische und/oder psychologische Stigmatisierung erfolgt. Grundsätzlich kann ich dazu sagen, dass ein effektives und nachhaltiges Stressbewältigungsprogramm alle Lebensbereiche einschließen muss, wenn es erfolgreich sein soll. Temporäre Maßnahmen und Insellösungen, wie zum Beispiel das Erlernen einer Entspannungsmethode für sich genommen, reichen hier nicht aus.


Die Meinung der fitnesswelt.de-Redaktion. Ein wirklich feines Buch, welches beim Lesen viel Spaß macht und einem Adrenalin-Junkie auch noch das Gefühl gibt, etwas Sinnvolles zu tun und keine sinnentleerte, einfach persönlich genutzte Lesezeit zu haben. Und dennoch bleibt etwas hängen.. Denn die Botschaft bleibt klar: weniger ist mehr. Mehr Leben.


Doris Kirch
12 Goldene Regeln für Stress-Junkies
Steigern Sie Ihren täglichen Adrenalin-Kick!
Ein Anti-Ratgeber
Mankau Verlag, 1. Aufl. Juni 2010
Hardcover, 10,5 x 17 cm, 152 S., WG 1 480
9,95 € (D) / 10,30 € (A)
ISBN 978-3-938396-43-8